iwi-lyrik

Die Bücher meiner Kindheit

Ein Seminarprojekt mit Doris Dörrie (Bürgerforum)

Mein eingereichter Text

Erinnere dich an ein Kinderbuch!

Mecki im Schlaraffenland, Struwwelpeter und  Max und Moritz, das waren meine ersten  Bücher.  Sie lagen meist auf der Eckbank, auf der unsere gesamte Bauernfamilie Platz hatte.  Niemand schaute mit mir die schon abgegriffenen Bilderbücher an. Vielleicht tat es meine schwäbische Großmutter, aber daran kann ich mich nicht mehr erinnern;  wohl aber an ihren Tod, der ein Loch in mein vierjähriges Leben riss. Ab diesem Zeitpunkt war die Großmutter aus dem Rheinland für mich und für das Kochen zuständig. Der Vater hatte meine Mutter im Krieg dort kennengelernt und mit ins schwäbische Dorf gebracht. Sie kam mit Seidenstrümpfen und Fuchspelzmantel an, erzählte sie später. Die Großeltern verließen ihrerseits ihre Heimat bauten gegenüber  von unserem Bauernhof ein Haus auf eine Anhöhe. Dies wurde meine zweite Heimat.  Es wurde nun fast  ausschließlich kölscher Dialekt gesprochen. Ich fühlte mich auf dem Bauernhof nicht besonders wohl.  Als ich oft ungesehen verschwinden konnte, traf ich mich mit Freunden auf der Straße. Einmal hatten wir Streit und meine Freundin rief mir nach: „Dei Muadr isch a Hur“ und ich schrie verletzt zurück: „und deine ein Arschloch.“   Wir schlugen und vertrugen uns.
Heute ist sie Bürgermeisterin und ich Autorin.

An einem Regentag saß ich mit dem Buch ‚Schlaraffenland‘, in dem die Süßigkeiten und Spielsachen auf den Bäumen wuchsen, auf der Eckbank in der großen Bauernküche, wo sich die Großmutter ans tägliche Kartoffelschälen machte. Ich träumte davon, dass ich einmal alles, was ich mir wünschte, pflücken konnte  und beredete es mit Oma, die bestätigte, dass das wirklich schön wäre.
Heute denke ich an das Buch, wenn ich mit Knopfdruck über Amazon alles bestellen kann, was ich mir wünsche. Wenn ich mit meinem Mann ab und zu mal in die Stadt fahre und im Kaufhaus umherschlendere, dann bedauere ich, dass wir schon alles haben.   

Als ich lesen konnte, da hat mich die Geschichte von Witwe Polte animiert, die Sache mit den Hühnern auszuprobieren, aber es fehlte mir die richtige Schnur. Ich sagte zu den Freunden, dass wir die Hühner auch einfach fangen könnten. So jagten wir sie, und prompt fiel ein Huhn tot um. Irgendwie war das spannend und wir wiederholten diese Aktion auch in den andern Hühnergehegen der Freunde, damit es  nicht so auffiel. Wir waren Tage damit beschäftigt und bekamen dann doch ein schlechtes Gewissen.

Die Episode in der Max und Moritz die Maikäfer ins Bett von Onkel Fritz gesteckt hatten, probierten wir nicht aus,  es wäre dann doch mit Ärger verbunden gewesen. Wir fürchteten uns vor Strafe. Eigentlich täglich. Der Sommer war lang und die Tage kurz. Wir Kinder probierten alles aus. Die Bilderbücher regten unsere Phantasie an und es fielen uns noch mehr Abenteuer ein.
Paulinchen z. B. das die Schwefelhölzer heimlich entzündete und selbst verbrannte, ließ uns doch etwas vorsichtiger damit umgehen.  Man konnte ja auch nur mal eine Zigarette anzünden aber das durfte niemand merken. So gingen wir in eine Feldscheune. Die kluge Schulfreundin brachte Geld von zuhause aus dem Küchenschrank mit, die Jungs holten die Zigaretten, wir Mädels kauften Kaugummis und Zündhölzer, damit es dem Kaufmann nicht auffiel. Wir hatten vier kleine Geschäfte, die wir aus diesem Grund  wechselten. Wir verabredeten uns nachmittags  in der Feldscheune. Wir pafften bis alle Zigaretten aufgebraucht waren und es aus den Ritzen dampfte. Das wiederholten wir öfter, einmal mit Salem, Ernte 23, Stuyvesant oder HB, je nachdem, was wir unseren Vätern immer holen mussten. Es fiel nicht auf.


Meine älteste Schwester hasste mich, weil sie mich fast allabendlich suchen  musste. Ich konnte überall und nirgends sein. Die Abendglocken überhörte ich des Öfteren, dann bekam ich häufig Schläge und musste sofort ins Bett. Nachts wachte ich vor lauter Träumen nicht auf, um aufs Klo zu kommen. Ich wachte oft im feuchtwarmen Bett auf. Das machte mich doppelt unbeliebt bei meiner überforderten und mit ihrem Ansehen im Dorf beschäftigten Mutter, die mich als viertes Kind hätte abtreiben sollen, nach der Meinung eines Schwagers, der ihr schon das Besteck dazu gebracht hatte.

 Am liebsten war ich bei meiner Tante. Sie hatte zwei wunderbare dicke Bücher mit vielen Zeichnungen und Gedichten von Wilhelm Busch. Die Geschichte mit  dem Raben faszinierte mich besonders. Er war durch zu viel Likörgenuss ins Torkeln geraten und hatte sich in der Wolle des Strickzeugs verheddert. Bedauerlicherweise erhängte er sich durch ein Missgeschick. Vorbei war´s.

Tod und Schrecken waren mir aus den Erzählungen der Erwachsenen bekannt. Oft wurde vom Krieg geredet und die Angst war mein ständiger Begleiter. Das Ausgeliefertsein, wie das nichts gegen seine Situation tun zu können, lähmte und schwächte das gute Lebensgefühl, das in jedem Kind steckt. Die  Kinderbücher relativierten alles ein wenig und hinterließen eine Spur von Hoffnung.

Kinder sind Aushalter, Durchsteher, Hindurchgeher,  Neugierige, Lernende, Fröhliche, Mutige, Anpassungsfähige, Kämpfer, Opfer, Täter und vor allem sind sie Menschen, die geliebt werden wollen und nach Anerkennung suchen.  Wer Kinder liebt, der hat auch Zeit für sie, um in einem Buch zu lesen, ihnen zuzuhören, und um Bilder von ihnen malen zu lassen und sie aufzuhängen.

Inge Witt, Birkenweg 20, 83119 Obing
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