Kurzgeschichte
Der alte Küchenschrank
„Bäh, das ist ja kein Zucker, sondern Salz!“, rief ich, worauf Großmutter antwortete: „Tja, da hat wohl jemand die Box vertauscht.“ Sie war es natürlich nie, und auch sonst niemand. Es war immer dasselbe: Zucker und Salz wurden verwechselt. Irgendwann klebte jemand einen Zettel an die Glasschütten, aber der hielt nie lange. Der Küchenschrank war für mich wie ein riesiges Monster, aus dem alles hervorgeholt werden konnte. Alles, was man brauchte, war darin verborgen, und oben auf dem Schrank lagen Dinge, die nur Erwachsene erreichen konnten. Der Schrank übte eine starke Anziehung auf mich aus.
Mit etwa vier Jahren schob ich voller Neugier einen Stuhl an den Küchenschrank und kletterte auf die 20cm vorstehende Ablage. Eine bunte Blechschatulle mit faszinierenden Utensilien drin, war das Erste, was ich hervorschob, um es später zu öffnen. Noch mehr reizte mich das Zeug, das ganz oben auf dem Schrank lag. Ich streckte mich danach, bis ich plötzlich das Gleichgewicht verlor.
Ein fehlendes Eck an der Sitzfläche des Stuhls war ein stummer Zeuge meines Sturzes. Meine Eltern meinten, ich müsse einen ziemlich harten Schädel haben, um so etwas zu schaffen. Den Stuhl hatte ich noch mit über 20 Jahren, als ich selbst Mutter war, immer wieder betrachtet. Er stand in einer abgelegenen Bügelkammer, über die ich noch viele andere Geschichten erzählen könnte. Dort wurde ich geboren, dort musste ich meinen Mittagsschlaf halten und bin aus dem Fenster durch die Gitterstäbe geklettert, dort habe ich meine erste Zigarette geraucht und mit vierzehn Berge von Wäsche gebügelt. Dort habe ich mit meiner Mutter Arbeitshosen und Jacken geflickt und im Apothekenschrank nach dem Medizinbuch gesucht, in dem man die nackten Körper von Mann und Frau sehen konnte.