Kettengeschichte

aus der Antologie der Chiemgau-Autoren e. V.

Kettengeschichte – Projekt für die Chiemgauer Kulturtage 26.07.2018
Trostberg,
Lesung: in Vicky´s Chat & Chill

18 Autoren schrieben zu dem Thema „Trotz.Kollaps.Schreiben“ eine Kettengeschichte. Der letzte Satz des vorher ausgelosten Teilnehmers, war der Anfangssatz für den nächsten Schreiber. Ich bekam den Satz:

Ein kurzes Aufbäumen, danach war Nick alles egal. Er hatte lange gekämpft, und ich stand ihm bei in seinen letzten Tagen. Für ihn war es eine Erlösung.

Um auf andere Gedanken zu kommen, besuchte ich am nächsten Tag, einem regnerischen Freitag-Morgen, die 85 jährige, allein lebende Elsa. Sie öffnete mir freundlich wie immer ihre Haustür. Wir setzten uns auf ein paar Minuten in ihre Küche und redeten über alles Neue. So zeigte sie mir auch ein Kästchen mit rotem Knopf, das sie um den Hals trug. Es handelte sich um ein Notrufsystem, über das Senioren Hilfe rufen können. Elsa meinte, dass sie sich damit viel sicherer fühle.
Ich war begeistert davon, denn ich dachte in dem Moment an die ebenfalls allein lebende fast 90 jährige Tilde, die mir zwei Tage zuvor, beim wöchentlichen Mittwochstreff, ihr Leid klagte. Sie würde sich morgens oft schwindlig fühlen und habe Angst, im Bad zu fallen, und es fände sie keiner rechtzeitig. Sie wollte sogar das Risiko einer Operation eingehen und sich einen Herzschrittmacher implantieren lassen. Ich machte mich noch ein wenig lustig und meinte: „Du wirst halt mal einschlafen und im Himmel aufwachen.“
Sie reagierte etwas säuerlich und meinte: „Soweit bin ich noch nicht.“ Tilde war für ihr Alter sehr gesund und geistig rege.
Es ging mir nach unserem Gespräch nicht aus dem Kopf, dass sie sich ängstigte. Da fiel mir Marie ein, die auf der selben Etage des Bankgebäudes wohnte. Abends rief ich Marie an und bat sie, doch einmal täglich bei Tilde zu klingeln, um ihr die Angst etwas zu nehmen. Sie erklärte sich grundsätzlich bereit dazu, wollte aber nur jeden zweiten Tag nach ihr sehen, um ihr nicht auf die Nerven gehen.
Nach dem Besuch bei Elsa, fuhr ich also weiter um Tilde die Nachricht zu bringen. Ich stand nun vor dem großen Mietsgebäude der Bank, mit der Adresse des Notfalldienstes in der Hand und klingelte am Haupteingang. Tilde öffnete nicht. Ich dachte, dass sie vielleicht noch im Bad wäre oder einen Arzt-Termin hätte. Da klingelte ich bei Marie, die ich durch die Sprechanlage informierte. Sie drückte auf den Türöffner und meinte, dass Tilde um diese Zeit längst wach sein müsste. Sie wollte sich noch anziehen und käme dann nach. So fuhr ich in den zweiten Stock hoch und klingelte an Tildes Wohnungstür. Da war es mir, als hörte ich ein leises Stöhnen. Ich war mir aber nicht sicher. Wiederholt klingelte ich aber es kam ein Geräusch vom Aufzug dazu. Ein gutgekleideter Mann verließ den Aufzug in meine Richtung. Ich sprach ihn an und erklärte ihm kurz die Situation und bat ihn, mit an der Tür zu horchen. Ich klingelte zum dritten Mal – da war es wieder. Ein leises Stöhnen. Sofort handelte der Mann und läutete ein paar Türen weiter beim Hausmeister. Wir mussten in die Wohnung gelangen.
Marie war inzwischen dazugekommen. Die Frau des Hausmeisters erklärte, dass ihr Mann gerade bei der Geldübergabe im Tresorraum der Bank wäre. Dort befänden sich auch alle Schlüssel der Wohnungen. Wenn wir Glück hätten, wäre die Aktion noch nicht abgeschlossen. Es war kurz nach 9 Uhr als wir die Bank betraten. Ein junger Angestellter suchte sofort den Hausmeister, nachdem wir ihm die Situation geschildert hatten.
Plötzlich geschah etwas Seltsames. Die Eingangstür öffnete sich und ein kleiner, verstört wirkender Mann im Schlafanzug stürzte herein, nahm einen großen Stein aus der Dekoration im Eingangsbereich und schrie: „Der Teufel, der Teufel hat mich die ganze Nacht gequält… “ Eine Angestellte, die sich gerade am PC niedergelassen hatte, suchte automatisch Deckung hinter ihrem Bildschirm. Blitzschnell wurde mir klar, dass ich jetzt handeln muss. Ich ging beherzt zu ihm, nahm ihm den Stein ab und sagte freundlich: „Da müssen Sie laut ‚Jesus‘ rufen, dann verschwindet der Teufel.“ Er stammelte noch etwas von seiner sterbenden Mutter, und ich riet ihm, für die Mutter zu beten. Sichtlich erleichtert verließ der Mann wieder die Bank während die Angestellten erstarrt schwiegen.
Marie hatte inzwischen den Notdienst gerufen. Der Hausmeister war jetzt mit dem Ersatzschlüssel da. Zusammen gingen wir in die Wohnung. Wir fanden Tilde in einem schrecklichen Zustand im Bad. Der Hausmeister öffnete alle Fenster und ich bedeckte Tilde mit einem großen Badetuch und blieb bei ihr. Ihr Stöhnen wurde immer lauter bis sie rief: „Ich kann nicht mehr.“ Tröstend sagte ich: „Tilde, Jesus ist bei dir, gleich kommt Hilfe.“ Sie wurde ganz ruhig und im selben Augenblick kamen die Sanitäter mit einem Koffer zur Tür herein. Ich ging auf den Gang und betete. Das ‚Vater unser‘ rührte mich zu Tränen, denn gerade als ich bei „dein Wille geschehe“ war, verband sich mein Gebet mit dem harten Ton des Defibrillators, der aus der Wohnung drang: “Exitus Exitus Reanimation abgebrochen – Exitus Exitus Reanimation abgebrochen.“
(Inge W.)